Zum (Vor)Lesen und Nachmalen!
Die Sonne lacht vom Himmel, ringsherum summen die Bienen und die Murmeltiere pfeifen, als ob sie für ein Konzert üben würden. Es ist Ferienzeit und Dolomilla verbringt ihre Sommerfrische auf der Alm. Dolomilla ist eine besonders schöne Kuh. Immer wenn Wanderer am Weidezaun stehen bleiben, blitzen ihre großen, braunen Augen mit den langen, dunklen Wimpern freundlich auf. Heute aber schaut sie gar nicht fröhlich drein. Sie langweilt sich fürchterlich: „Wann passiert endlich mal was?,... denkt sie, während sie am zwanzigsten Grasbüschel an diesem Morgen kaut. Sie blickt gedankenverloren zum Hügel, hinter dem die Spitzen der Tannenbäume hevorgucken. „Ich war noch nie hinter dieser Almweide.“ Sie stupst ihre Freundin Elsa an, die sich neben ihr gerade genüsslich in der Sonne reckt. „Hey, hast du Lust auf ein Abenteuer? Ich will sehen, was es dahinten gibt!“ „Ach nö, lass mal“, sagt Elsa. „Der Bauer hat erst gestern mein Fell glänzend gestriegelt und ich möchte es mir nicht schmutzig machen“, betont sie und fügt hinzu: „Und du weißt schon, dass uns der Bauer strengstens verboten hat, weiter als bis zum Ende der Weide zu gehen?“ Dolomilla verdreht die Augen, aber sie wäre nicht Dolomilla, wenn sie nicht schon einen Plan ausgeheckt hätte: Nach dem Mittagessen steht die Sonne am höchsten über den Gipfeln. Genau dann legt sich der junge Bauernbub ins Gras und macht ein Nickerchen. Die perfekte Gelegenheit, unbemerkt zu verschwinden. „Ich mache ja nur einen kleinen Ausflug, und bevor er es überhaupt bemerkt, bin ich auch schon wieder da“, lächelt Dolomilla in sich hinein und beschließt gleich an diesem Tag allein loszugehen.
Es ist kurz nach 12 Uhr und wie immer legt sich der Bauernbub ins Gras. Bald darauf ist sein gleichmäßiges Schnarchen quer über die ganze Wiese zu hören. Jetzt nichts wie los! Auf leisen Hufen, einen Schritt nach dem anderen, schleicht sich Dolomilla davon. Schon bald hat sie die Herde hinter sich gelassen und wenige Minuten später steht sie bereits mitten im Wald. Was war das für ein Geräusch? Hinter einem Busch knistert es, und Dolomilla bleibt erstarrt stehen. Aber es war nur das Eichhörnchen, das sich vom Baum heruntergewagt hat, um die Kuh im Wald näher zu betrachten. Schon wieder ein Geräusch! Diesmal kommt es vom Gehölz hinter ihr. Dolomilla rutscht das Herz in das Euter, aber sie nimmt allen Mut zusammen und schreit in den Wald hinein: „Raus mit dir, ich habe keine Angst!“ Und ein junges, scheues Reh schaut hinter einem Tannenbaum hervor, sichtlich verschreckt über so viel Geschrei.
Der Wald ist durchquert. Aber was ist das? Ein Bergbach versperrt den Weg, laut und wild poltert das Wasser bergab. „Na sowas“, ärgert sich Dolomilla, „ich bin doch nicht den ganzen Weg hergelaufen, um hier wieder kehrt zu machen. Da muss ich rüber.“ Sie sucht den Bach nach seiner schmalsten Stelle ab und - siehe da - etwas weiter oben, verengt sich der Lauf. Einmal tief durchatmen, Anlauf, und mit einem Satz landet Dolomilla sicher auf vier Beinen am anderen Ufer. „Puh, das war ja eine Meisterleistung!“ ist Dolomilla sichtlich stolz auf sich. Sie schaut sich um, blickt hinunter zu ihren Füßen und blinzelt, blinzelt nochmal – und traut ihren Augen nicht: Sie ist mitten im Paradies gelandet! Almblumen, die schönsten, größten und verlockendsten, die man sich wünschen kann, breiten sich wie ein Blütenteppich vor ihr aus. Manche sind so gelb wie der Zitronenfalter, der ihr manchmal die Nase kitzelt. Andere wiederum haben violette Miniblüten, die bei jedem kleinsten Hauch lustig im Wind tanzen. Einige sehen aus wie rosarote Zuckerwatte und es gibt Blumen, die sogar ihre Farbe wechseln, je nachdem, von welcher Seite man sie anschaut.
Dolomilla macht einen Freudensprung und ist nicht mehr zu halten. Als erstes kostet sie von den gelben Zitronenfalter-Blumen – mmmh, so lecker! Und wie gut schmecken erst die violetten… Fast wie Schokolade mit Erdbeerfüllung. Sie nascht und nascht und ehe sie’s sich versieht, ist es stockdunkel. Sie sieht nicht mal mehr ihre eigenen Hufen. „Hilfe“, jammert Dolomilla verzweifelt, „so finde ich nie mehr nach Hause.“ Ängstlich kneift die Kuh beide Augen zusammen. War das nicht eben ein Knistern und Knacken? Immer lauter, immer näher kommt das unheimliche Geräusch… Was für eine Erleichterung, als sie die wohlbekannte Stimme des Bauernbuben hört. „Na, da bist du ja!“ sagt er leicht verärgert, aber doch sehr erleichtert. Die Ausreißerin ist nicht nur wohl auf, sie kann sich kaum mehr auf den Beinen halten, soviel hat sie gefressen. Bunte Büschel voller angekauter Blumen gucken aus ihrem Maul heraus. Auf dem gesamten Fell sind Blüten in allen Farben des Regenbogens verteilt. Bei diesem Anblick muss der Bauer einfach lachen, so lustig schaut Dolomilla aus. Sein Zorn verraucht schnell. „Im Gegenteil“, denkt sich der Bauer, „jetzt kann ich mich auf eine besonders gute Milch und Butter zum Frühstück freuen, bei diesem herrlichen Futter, das sie heute gefressen hat.“ Wieder vereint treten beide den Rückweg im Schein der Taschenlampe an. Für Dolomilla hat dieses Abenteuer allerdings ein langes Nachspiel: Noch Tage nach ihrem Ausbruch hat sie den Geschmack der Regenbogenwiese auf der Zunge.